Normative und expansive Ausprägungen von Geschlecht

Jede Dimension des Radars hat «normative Ausprägungen» (entspricht der gesellschaftlichen Norm) und «expansive Ausprägungen» (erweitert die gesellschaftliche Norm). Dabei ist wichtig zu verstehen, dass es Menschen gibt, die sich in nur einem Bereich von Geschlecht im Expansiven bewegen und sonst sehr normativ sind. Es gibt aber auch Menschen, die in allen Bereichen sehr expansiv sind – sowie alle Schattierungen dazwischen. Alle Kombinationen sind möglich.

Ausprägungen in den Dimensionen


Körper

Unsere Gesellschaft hat enge Normen bezüglich: äussere Geschlechtsorgane, innere Geschlechtsorgane, Keimdrüsen, Hormone, Chromosomen und weitere sekundäre Geschlechtsmerkmale.

«Ich denke, es gibt eine viel grössere Vielfalt innerhalb von männlich oder weiblich, und es gibt sicherlich einen Bereich mit Überschneidungen…»

— John Achermann, University College London

Endogeschlechtliche Menschen (auch dyadisch genannt) haben Körper, die bei Geburt einer gesellschaftlichen Norm von Zweigeschlechtlichkeit entsprechen (basierend auf der Annahme es würde nur männlich oder weiblich geben).

Obwohl die biologische Grundlagenforschung schon länger zum Schluss gekommen ist, dass diese binäre Sicht nicht haltbar ist (siehe Artikel in Nature [englisch], 2015), ist sie in der Gesellschaft immer noch weit verbreitet.

Intergeschlechtliche Menschen haben Körper, die sich bei Geburt von den sozialen Normen und Erwartungen von «männlich» oder «weiblich» unterscheiden. Solche angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale können den Chromosomensatz, die Hormoneund/oder äussere und/oder innere Geschlechtsmerkmale betreffen.

Es gibt verschiedene Variationen, das sind u.a.: «Adrenogenitales Syndrom (AGS)», «Hypospadie», «Turner Syndrom», «Gonadendysgenesien», «Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser (MRKH)», «Klinefelter», «Androgeninsensitivität (CAIS, PAIS, MAIS)» und viele weitere. Leider besteht in unserem Gesundheitssystem immer noch die menschenrechtswidrige Praxis, dass in vielen Fällen bei Neugeborenen eine Angleichung an eines der binären Geschlechter vorgenommen wird, obwohl diese Eingriffe in fast allen Fällen medizinisch nicht nötig wären.

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Identität

Ob sich eine Person mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren kann oder nicht, sagt etwas über ihre Geschlechtsidentität aus.

Die Konzepte «cis/trans» sind zwar wichtig für die Trans-Community aber leider auch problematisch aus Perspektive der Inter-Community (siehe z.B. Artikel von Hida Viloria [englisch], 18.8.2014).

Cisgender Menschen können sich mit dem ihnen bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren.

Es kann sein, dass cis Menschen in anderen Bereichen nicht sehr normativ leben (z.B. traditionelle Rollen stark ablehnen oder einen sehr nonkonformen Ausdruck haben), aber sie identifizieren sich doch mit ihrem Geburtsgeschlecht.

Transgender Menschen sind nicht einverstanden mit der Zuschreibung ihres Geschlechts bei Geburt. Sie wissen, dass sie ein anderes Geschlecht sind. Trans Menschen können sich binär verstehen (als trans Frau oder trans Mann) oder als non-binäre Person (ein Überbegriff für ganz viele Geschlechtsidentitäten ausserhalb der Binarität Frau/Mann wie z.B. agender, genderfluid etc.). Die folgende Tabelle listet die verschiedenen Begriffe auf, wie wir über trans Menschen reden können – wenn auch die Selbst-Bezeichnung der einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sein kann.

Zugeschriebenes GeschlechtGeschlechts IdentitätBezeichnung spezifischBezeichnung allgemein
weiblichmännlichtrans MannMann
männlichweiblichtrans FrauFrau
weiblich oder männlichnon-binärnon-binäre PersonPerson

Ob trans Menschen auch eine Transition (Angleichung an ihre Geschlechtsidentität) machen oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle. Non-binäre Menschen können sich als trans identifizieren oder auch nicht, aber nach der hier verwendeten Definition fallen sie auf jeden Fall unter den «trans Schirm». Ein Synonym zu non-binär ist genderqueer.

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Ausdruck

Kleider, Frisur, Styling, Stimme, Art der Kommunikation, Gesichtsbehaarung, Körperformen und Körpersprache sind in unserer Gesellschaft stark mit Geschlecht assoziiert (gegendert). Ein nicht der Norm entsprechender Geschlechtsausdruck führt öfter zu diskriminierenden Reaktionen als die anderen Dimensionen von Geschlecht. Entscheidend ist dabei auch, als welches Geschlecht eine Person «gelesen» wird (sog. Gender Attribution).

Gender-konforme Menschen haben ein Äusseres, welches sich innerhalb der gesellschaftlichen Normen in Bezug auf Geschlecht bewegt. Interessant ist hier, dass diese Grenzen für «männlich» gelesene Menschen sehr viel enger verlaufen als für Menschen, die als «weiblich» wahrgenommen werden.

Es weichen z.B. die so genannten Tomboys (siehe dazu Wikipedia) von einem traditionellen Bild von Weiblichkeit klar ab, sind aber in unserer Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Ein akzeptiertes «männliches» Gegenstück dazu gibt es bei uns nicht. Zwar sind Drag Queens (und Drag Kings) in einem bestimmten Kontext geduldet oder sogar gefeiert. Sobald sie diesen Rahmen verlassen, wird derselbe Gender-Ausdruck inakzeptabel.

Gender-nonkonforme Menschen entsprechen äusserlich nicht den gesellschaftlichen Normen. Einige von ihnen bemühen sich aktiv um Expansion, weil sie sich diesen Regeln nicht unterordnen wollen oder weil es Teil ihrer Identität ist. Es gibt auch Menschen, die nicht freiwillig ein gender-nonkonformes Äusseres haben.

Wenn bei trans Menschen, intergeschlechtlichen Menschen oder endo-cis Menschen sekundäre Geschlechtsmerkmale stark ausserhalb der Norm sind – in Bezug auf das Geschlecht als welches sie wahrgenommen werden – dann müssten diese einen sehr grossen Aufwand betreiben, um in die Norm passen zu können.

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Anziehung

Da es in unserer Gesellschaft einen grossen Unterschied macht, was die Personen in einer intimen Beziehung für ein Geschlecht haben, werden die sexuelle und romantische Orientierung auch relevant für unser eigenes Geschlecht bzw. wie wir wahrgenommen werden. Dies hat auch viel zu tun mit gesellschaftlichen Erwartungen an die Geschlechterrolle.

Für die verschiedenen expansiven Variationen von sexueller und romantischer Anziehung gibt es unterschiedliche Begriffe. Deshalb ist es schwierig, einen passenden Oberbegriff zu finden. So wird im Geschlechter-Radar das Gegensatzpaar «hetero» (normativ, heterosexuell) und «queer» (expansiv, nicht heterosexuell) verwendet. Zwar lässt sich der Begriff «queer» (frei übersetzt «schräg») auch auf andere Dimensionen anwenden (z.B. genderqueer). Aber hier wird er im Sinne von «queerer Anziehung» verwendet.

Hetero Menschen bzw. heterosexuelle Menschen spüren sexuelle und romantische Anziehung gegenüber dem «anderen» Geschlecht (unter der Annahme es würde nur zwei Geschlechter geben).

Queere Menschen haben unterschiedliche Arten sich zu definieren. Es gibt z.B. Menschen, die definieren sich als lesbisch oder schwul (gleichgeschlechtlich oder homosexuell) und andere als bisexuell oder pansexuell (von mehreren Geschlechtern angezogen). Ob sie sich selber auch als queer bezeichnen oder nicht, ist individuell verschieden.

Gut ist auch zu wissen, dass sexuelle und romantische Anziehung nicht dasselbe sind (d.h. sie können unterschiedlich sein) und gewisse Menschen verspüren gegenüber keinem Geschlecht eine Anziehung (asexuelles und aromantisches Spektrum).

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Rolle

Vor allem in den Bereichen Beruf, Familie und Beziehungen gibt es in unserer Gesellschaft Erwartungen (ausgesprochen oder nicht), wie sich «Angehörige eines Geschlechts» zu verhalten haben.

Ein Abweichen von diesen Rollen wird oft bestraft durch Ausgrenzung oder manchmal auch mit Gewalt. In vielen Bereichen gibt es «gläserne Wände oder Decken» (z.B. gegen weibliche CEOs).

Menschen mit traditionellen Rollenbildern orientieren sich in ihrem Leben an diesen Regeln.

Die Regeln sind oft so internalisiert, dass die Menschen sich nicht wirklich aktiv «an Regeln halten» müssen, sondern denken, das wären ihre natürlichen Präferenzen. Natürlich gibt es auch Menschen, die diese Regeln sehr gründlich reflektiert haben und sich trotzdem innerhalb der Norm am wohlsten fühlen.

Menschen mit feministischen Rollenbildern brechen aus den traditionellen Rollenvorstellungen aus, weil diese Vorstellungen vor allem Frauen diskriminieren und non-binäre Geschlechter sowieso. Aber auch viele Männer leiden unter den traditionellen Rollenbildern.

Sie müssen sich auf Repressionen gefasst machen. Oft werden sie von systemischen und persönlichen Diskriminierungen getroffen. Wie auch beim Geschlechtsausdruck ist es so, dass diese Grenzen für «männlich» gelesene Menschen anders verlaufen als für Menschen, die als «weiblich» wahrgenommen werden.


Vielfalt von Geschlechtervielfalt

Es gibt 31 Möglichkeiten geschlechtliche Normen zu sprechen. Mit fünf Dimensionen von Geschlecht gibt es 32 Kombinationen (25) von normativ und expansiv und nur eine davon ist vollständig innerhalb der Norm. In der Animation oben werden einige der Kombinationen angezeigt.


Merkblatt zum Ausdrucken

Zur Perspektive «normativ & expansiv» gibt es auch ein Merkblatt zum Ausdrucken unter Downloads.


Nur diese Perspektive auf Geschlecht wäre sehr binär gedacht. Jede der fünf Dimensionen besteht auch wieder aus einem kontinuierlichen Spektrum >


Text: Evianne Hübscher | Erste Veröffentlichung: 9.7.2022 | Letztes Update: 21.8.2022